Was passiert, wenn die Literatur und das Kino zusammentreffen? Seit seiner Erfindung um die Wende zum 20. Jahrhundert sind Schriftstellerinnen und Schriftsteller nachhaltig vom Medium des Films fasziniert. Diese neue Kunstform bietet vielfältige Anregungen. Die Autorinnen und Autoren nehmen die Möglichkeiten, «die Leinwand zu beschreiben», in sehr unterschiedlicher Weise wahr. Sie berichten von ihren Erfahrungen in den Kinosälen – von geliebten Filmen und bewunderten Stars –; sie schreiben aber auch Drehbücher oder arbeiten mit an Verfilmungen ihrer Werke; wir begegnen ihnen vor und hinter der Kamera; schliesslich entwerfen sie auf dem Papier ihr eigenes Kino. Im Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) der Schweizerischen Nationalbibliothek finden sich zahlreiche Spuren dieser spannenden und oft spannungsreichen Beziehungen. Ausgehend von Beständen des SLA bietet die Ausstellung in sechs Kapiteln Einblicke in die über hundertjährige Verbindung zwischen der Welt des Films und derjenigen des Wortes.
Programmblatt Lichtspiel-Theater St.Gotthard, Bern (1916). Nachlass Carl Spitteler, Schweizerisches Literaturarchiv der Schweizerischen Nationalbibliothek
Die Kinosäle sind zweifellos der Ursprungsort grosser filmischer Gefühle. Von den abenteuerlichen frühen Projektionen bis zur Industrialisierung der Technik in den 1920er Jahren: Es ist das Medium als solches, das Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie das gewöhnliche Publikum gleichermaßen fasziniert. Doch ihre Aufmerksamkeit gilt natürlich auch immer schon den Figuren, die in den bewegten und zugleich bewegenden Bildern zur Darstellung kommen. Der Typus des Filmstars entsteht, und er liefert der Literatur seinerseits Stoff. Grosse Filmemacher, insbesondere aus der Blütezeit des Kinos, erscheinen wie Doppelgänger der Autoren: Sie verstehen es auf ihre Weise, die Leinwand zu beschreiben.
Friedrich Dürrenmatt, Zeichnung zum Midas-Manuskript, 1984. Nachlass Friedrich Dürrenmatt, Schweizerisches Literaturarchiv der Schweizerischen Nationalbibliothek
Schriftstellerinnen und Schriftsteller hegen schon früh Träume vom Kino, sie sehen sich als Drehbuchautorinnen oder Regisseure. Doch die finanziellen, kommerziellen, aber auch ästhetischen Zwänge der Filmindustrie vertragen sich oft nicht mit ihren Absichten. Viele Drehbücher kommen nicht über das Entwurfsstadium hinaus und bleiben liegen. Einige werden aber gerade durch das Scheitern ursprünglicher Pläne zu vollwertigen literarischen Werken. Das Drehbuch erfordert ein schnelles Schreiben in diskontinuierlichen Sequenzen und bietet insbesondere für den Roman ein anregendes Modell. Illustrationen treten als visuelles Element an die Stelle der nie gedrehten Bilder.
Franco Beltrametti, «Nadamas
– A movie project», Manuskript, 1971/1983. Nachlass Franco
Beltrametti, Schweizerisches Literaturarchiv der Schweizerischen
Nationalbibliothe
Fotos von den Dreharbeiten zum Film «Sutter's Gold» von James Cruze (1935-1936). Unbekannter Fotograf. Nachlass Blaise Cendrars, Schweizerisches Literaturarchiv der Schweizerischen Nationalbibliothek
Die Erfolgsgeschichte des Films ist nicht denkbar ohne seine literarische Inspiration. Die Verfilmung literarischer Werke erscheint daher als klassische Spielart und glücklicher Höhepunkt des Austauschs zwischen beiden Medien. Doch ist diese Beziehung nicht frei von Missverständnissen und Enttäuschungen. Das bewegte Bild hält nicht immer, was das geschriebene Wort verspricht – und umgekehrt. Die Literatur findet sich in einem Dilemma wieder: hier die Unterhaltungsindustrie, die sie populär machen kann, dafür möglicherweise aber ihren Geist verrät, dort das Avantgarde- oder Autorenkino, das diesem Geist verpflichtet ist, mit seinen bescheidenen Mitteln aber nur ein begrenztes Publikum erreicht.
Das Filmteam von «Rapt» bei der Erholung in Lens im Wallis, 1933. Nachlass S. Corinna Bille und Maurice Chappaz, Schweizerisches Literaturarchiv der Schweizerischen Nationalbibliothek
Neben der gewichtigen Rolle als neues Medium ist das Kino auch schlicht ein Arbeitgeber. Mit seinen spezifischen Berufen lässt sich Geld verdienen. Abgesehen von der einträglichen Arbeit des Drehbuchschreibens können Autorinnen und Autoren etwa als Darstellerinnen, Statisten, Regieassistentinnen oder Script-Verfasser wirken. In diesen Funktionen arbeiten sie direkt mit den Regisseuren und ihren Teams zusammen. Manchmal werden die Drehorte selbst zu Schauplätzen, an denen neue Geschichten entstehen, erlebte oder erdachte. Schliesslich haben es die Berufe in der Filmindustrie auch einigen ermöglicht, die Branche näher kennenzulernen, bevor sie selbst hinter der Kamera standen.
Birgit Kempker und Anatol Kempker, CD von «Repère», 2009. Archiv Birgit Kempker, Schweizerisches Literaturarchiv der Schweizerischen Nationalbibliothek
Der Schritt hinter die Kamera ist für diejenigen naheliegend, die im engeren Sinn «die Leinwand beschreiben» wollen. Es gibt bekannte Beispiele von Autorinnen-Regisseurinnen bzw. Filmemacher-Autoren, die sich in beiden Medien hervorgetan haben. Das bemerkenswerteste Merkmal dieser Art Kino ist seine Experimentierfreudigkeit. Es bestimmt die Erwartungen an das Medium neu, indem es Erzählweise, Schauspiel, Gebrauch von Bild und Ton – kurz: alle Mittel des Mainstream-Kinos – in Frage stellt. Nicht zuletzt geht es auch darum, die Vertriebswege und das Marketing dieses Kinos zu umgehen, indem man andere Vertriebskanäle nutzt.
Patricia Highsmith, Cutting Book Nr.8 mit Presseausschnitten 1977/1978. Nachlass Patricia Highsmith, Schweizerisches Literaturarchiv der Schweizerischen Nationalbibliothek
Das Kino wirkt auch auf die Literatur zurück. Manche literarischen Werke werden erst durch ihre Verfilmung breit wahrgenommen. An diesen Erfolg schliesst dann auch das Buchmarketing an – etwa durch die Verwendung des Filmplakats auf dem Umschlag. Manche Schriftsteller und Schriftstellerinnen bedauern, allein durch die Verfilmung ihrer Romane berühmt geworden zu sein. Andererseits: Wenn ein Text mehrfach verfilmt wird, legen die einzelnen Filme aus ihrer jeweiligen Gegenwart heraus auch neue Bedeutungsschichten am alten Text offen.