Die Stimmbevölkerung der Schweiz verdoppelte sich vor fünfzig Jahren auf einen Schlag. Für die eidgenössische Demokratie bedeutete die Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Frauen 1971 den grössten Zuwachs ihrer Geschichte. Ein halbes Jahrhundert nach diesem elementaren Ereignis fragt die Schweizerische Nationalbibliothek nach der politischen und kulturellen Teilhabe in der Schweiz.
1848
Die neue Bundesverfassung gewährt dem Schweizer Stimmvolk allgemeines und direktes Stimm- und Wahlrecht – die Frauen sind jedoch nicht mitgemeint.
1860–74
Frauenvereine fordern für die geplante erste Revision der Bundesverfassung erfolglos die zivilrechtliche und politische Gleichstellung der Frauen.
1893
Der Schweizer Arbeiterinnenverband fordert offiziell erstmals das Stimm- und Wahlrecht für Frauen.
1929
Der Schweizerische Verband für Frauenstimmrecht (SVF) reicht auf Bundesebene eine Petition ein, die das Frauenstimm- und -wahlrecht fordert. Sie bleibt folgenlos.
1959
Als der Bundesrat das Zivilschutzobligatorium für Frauen einführen will, fordern die Frauen gleiche Rechte für gleiche Pflichten. 1957 legt der Bundesrat einen Entwurf zur Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts vor. Am 1. Februar 1959 wird das Frauenstimm- und -wahlrecht in der eidgenössischen Volksabstimmung abgelehnt.
1969
Am 1. März 1969 findet der Marsch auf Bern statt. Fünftausend Frauen und Männer demonstrieren für das Frauenstimmrecht. Die Proteste werden von der Zürcher Politikerin Emilie Lieberherr angeführt.
1971
Das Stimm- und Wahlrecht für Frauen wird durch die eidgenössische Abstimmung am 7. Februar 1971 eingeführt, nach einem 100-jährigen Kampf der Frauenbewegung. Die Schweiz ist damit eines der letzten europäischen Länder, die den Frauen gleiche politische Rechte zuspricht wie den Männern. In Appenzell Innerrhoden wird das Frauenstimmrecht erst am 29. April 1990 wirksam, und zwar mit dem Frauenstimmrecht-Entscheid des Bundesgerichts und gegen den Willen der männlichen Stimmbürger an der Landsgemeinde.
1984
1971 nehmen elf Frauen im Nationalrat und eine Frau im Ständerat Einsitz. 1984 wird mit Elisabeth Kopp erstmals eine Frau zur Bundesrätin gewählt.
Podcast mit der Historikerin Rachel Huber zur Geschichte marginalisierter Gruppen.
Die Schweiz schliesst 1.7 Millionen Ausländerinnen und Ausländer – also fast 25 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung – vom Stimm- und Wahlrecht aus.
Im Kanton Neuenburg besteht seit 1849 ein kommunales Stimm- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer.
Rund 600 Gemeinden in der Schweiz haben das Ausländerstimmrecht auf kommunaler Ebene eingeführt.
Die Stimmbeteiligung der stimmberechtigten Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz liegt bei zehn bis zwölf Prozent. Dabei multiplizieren sich die Gründe für die Wahlabstinenz, weil beispielsweise die Stimm- und Wahlunterlagen nicht verstanden werden und keine Erfahrung mit Sachabstimmungen vorliegt.
Je länger Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz leben, umso ähnlicher wird ihr Stimmverhalten zu demjenigen der Schweizerinnen und Schweizer.
Der Kanton Glarus ist der einzige Schweizer Kanton, in dem das Stimmrecht 16 gilt. Dies seit 2007.
Im Februar 2021 stimmt die Ständeratskommission der parlamentarischen Initiative von Sibel Arslan (Grüne Basel) für ein Stimmrechtsalter 16 zu.
Mit dem Stimmrechtsalter 16 sollen andere Themen Eingang finden in die politische Agenda der Schweiz.
Laut der Eidgenössischen Jugendbefragung würde das Stimmrechtsalter 16 an den bestehenden Kräfteverhältnissen und an der politischen Partizipation nicht viel ändern. Es würde jedoch das heutige Median-Alter der Stimmbevölkerung von 57 Jahren etwas nach unten drücken.
Laut einer Studie des Forschungsinstituts Sotomo sagen 83 Prozent der Befragten ja oder eher ja zu einem stärkeren Einbezug der Jugendlichen in die Politik. Eine konkrete und naheliegende Massnahme dazu wäre die Senkung des Stimmrechtsalters von 18 auf 16 Jahre.
Gegenwärtig unterstützen nur 28 Prozent der Bevölkerung die Senkung des Stimmrechtsalters auf 16 Jahre.
Rund 16 000 erwachsene Schweizer Bürgerinnen und Bürger haben eine umfassende Beistandschaft und sind vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen.
Die Schweiz hat 2014 die UNO-Behindertenrecht-Konvention ratifiziert. Diese berechtigt alle Menschen zum Wählen und Abstimmen.
Bisher können nur im Kanton Genf Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung auf kommunaler und kantonaler Ebene an Abstimmungen und Wahlen teilnehmen und sind in öffentliche Ämter wählbar. Rund 1200 Menschen, die unter umfassender Beistandschaft stehen, verfügen seit 2020 über diese politischen Rechte. Damit ist Genf der einzige Schweizer Kanton, der das internationale Behindertenrecht respektiert.
Nirgendwo in Europa ist die Wahlabstinenz so hoch wie in der Schweiz. Seit 1971 beträgt sie stets über fünfzig Prozent.
Drei Umstände führen dazu, dass Menschen nicht an Wahlen teilnehmen: Sie wollen nicht, weil sie keine Motivation haben. Sie können nicht, weil ihnen die nötigen Ressourcen und Ausbildungen fehlen. Sie werden nicht dazu aufgefordert, weil sie sozial isoliert leben.
Über die höchste Stimmbeteiligung in der Schweiz verfügt der Kanton Schaffhausen. Wer ohne Entschuldigung nicht abstimmt, bezahlt eine Busse von sechs Franken.
Karteikasten der Nationalbibliothek, © Foto: Simon Schmid/NB
Wer sich in der Schweiz eine Stimme verschaffen konnte, zeigen die Sammlungen der Schweizerischen Nationalbibliothek exemplarisch auf. Sie vereinen fast alle Publikationen von Schweizerinnen und Schweizern. Damit ermöglichen sie einzigartige Einsichten in die Geschichte der Mitsprache in der Schweiz. Mit Alice Ceresa, Mariella Mehr und Doris Stauffer stellt die Ausstellung drei Schweizer Autorinnen, Künstlerinnen und Aktivistinnen ins Zentrum. Auf jeweils ganz eigene Weise haben sie sich das Recht auf eine Stimme erkämpft und damit vom politischen Prozess ausgeschlossenen Gruppen Gehör verschafft.
Alice Ceresa mit Radclyffe, ca. 1963, © Foto: Eredi Alice Ceresa, SLA/NB
Alice Ceresa (1923–2001) war eine schweizerisch-italienische Schriftstellerin. Sie wuchs in Basel und Bellinzona auf. Als junge Frau erhielt sie Zugang zu Exilantenkreisen in Zürich, unter anderem zu Autoren wie Luigi Comencini und Franco Fortini. Ab 1945 arbeitete Ceresa für die Weltwoche und die NZZ als Auslandkorrespondentin in Italien und Frankreich. 1950 wanderte sie nach Rom aus. Sie arbeitete als Journalistin, Übersetzerin und Lektorin für den Verlag Longanesi und zusammen mit Ignazio Silone für das italienische Komitee für die Kulturfreiheit. «Das einzige Argument, das mich beim Schreiben interessiert, ist die Frauenfrage», eng verknüpft mit der Suche nach innovativem weiblichen Schreiben. Mit ihrem experimentellen Erstlingswerk «La figlia prodiga» (1967) wurde Ceresa als Kultautorin des italienischen Feminismus bekannt. In der deutsch- und französischsprachigen Schweiz wurde sie – als im Ausland lebende und schreibende Frau – erst in den 1990er-Jahren mit der Übersetzung des zweiten und letzten Romans «Bambine. Geschichte einer Kindheit» bekannt. Alice Ceresa schrieb zeit ihres Lebens, publizierte aber nur wenig – «Non scrivo per scrivere, ma perché devo.»
Mariella Mehr, Foto: Fredi Lerch, 1984, SLA/NB
Mariella Mehr wurde 1947 in Zürich geboren. Als Angehörige der Jenischen war Mehr von der Aktion «Kinder der Landstrasse» betroffen. Dieses von der Stiftung Pro Juventute geleitete «Hilfswerk» nahm zwischen 1926 und 1973 rund 600 Kinder ihren Eltern weg. Mit einer falsch intendierten Fürsorge beabsichtigte die Pro Juventute, die nicht-sesshafte Lebensweise auszulöschen, und griff damit grundlegend in die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Familien ein. Mehr wuchs bei Pflegefamilien, in Heimen und in Anstalten auf. Als Minderjährige wurde sie wiederholt in die Psychiatrie eingewiesen, als 18-Jährige «administrativ versorgt». Mit diesen massiven behördlichen Übergriffen setzte sich Mehr ab 1975 als Journalistin und Autorin auseinander. 1981 publizierte sie ihren ersten Roman «Steinzeit». Auf der Grundlage ihrer eigenen Akte schuf Mehr die «Kinder-der-Landstrasse Show», die 1986 uraufgeführt wurde. Mehr hat eine Vielzahl von Lyrik, Prosa- und Theatertexten veröffentlicht. Mariella Mehr setzte sich auf politischer, gesellschaftlicher und kultureller Ebene für die Rechte der Jenischen und Roma ein. Aufgrund von Anfeindungen und Angriffen lebte sie zeitweise in Italien. Für ihre schriftstellerische und politische Arbeit erhielt Mehr diverse Auszeichnungen, darunter die Ehrendoktorwürde der Universität Basel. Mehr lebt heute wieder in Zürich.
Portrait Doris Stauffer, Nachlass Doris Stauffer, Graphische Sammlung, Schweizerische Nationalbibliothek, © ProLitteris / Foto: NB, Simon Schmid
Doris Stauffer (1934–2017) wurde in Amden geboren. Sie besuchte an der Kunstgewerbeschule Zürich die Fachklasse Fotografie. 1968/69 präsentierte sie im Zürcher Club Bel Etage, in der Kunsthalle Bern und in der Kunsthalle Düsseldorf eine Auswahl ihrer ersten Werke: «Assemblagen» oder «Objektbilder», geschaffen aus Materialien aus ihrer unmittelbaren Umgebung. Mit sieben weiteren Frauen gründete Stauffer 1969 die Frauenbefreiungsbewegung FBB. Das feministische Engagement liess sie auch in ihren Unterricht an der Kunstgewerbeschule Zürich einfliessen. Der Kurs «Teamwork» stiess bei der Direktion auf Abwehr und wurde bald abgesetzt, worauf der gesamte Lehrkörper kündigte. 1971 gründete Stauffer die private «F + F Schule für experimentelle Gestaltung» mit. Die kritische Auseinandersetzung mit dem weiblichen Alltag und den vorherrschenden Geschlechterrollen prägte weiterhin massgeblich Stauffers Schaffen. 1977 führte sie an der F + F den ersten «Hexenkurs» durch, 1978 eröffnete sie die «Frauenwerkstatt»: «Wir setzen uns auseinander mit Feminismus und Kreativität, dem männlich orientierten Kulturbegriff, sexistischen Tendenzen in der Kunst. Wir entdecken und realisieren unsere Vorstellungen von Kreativität, unsere eigenen Sprache, unsere Anliegen und was wir als Frauen mitzuteilen haben.»
Künstlerin und Kunsthistorikerin Mara Züst über Doris Stauffer und Feminismen in der Kunst.
Dorota Gawęda ist 1986 in Lublin, Polen, und Eglė Kulbokaitė 1987 in Kaunas, Litauen, geboren. 2012 schlossen beide ihr Kunststudium am Royal Collage of Art in London ab. Heute wirkt das Künstlerinnenduo von Basel aus. In ihrer eigens für die Ausstellung «Jetzt wählen!» kreierten Videoarbeit nehmen Gawęda und Kulbokaitė ihre Beschäftigung mit der Figur der Hexe wieder auf. In ihrer Sammlungsintervention setzen sie sich besonders mit der Schweizer Künstlerin Doris Stauffer und ihren Arbeiten zu Hexen auseinander. Dabei konfrontieren sie die Besucherinnen und Besucher der Schweizerischen Nationalbibliothek mit den brüchigen Grenzen zwischen Vergangenem und Zukünftigem, zwischen Fiktion und Realität. Sie führen damit ihr Projekt «Mouthless» weiter, das sie 2020 in einer Soloausstellung in Freiburg zum ersten Mal präsentierten.
Wer publiziert in der Schweiz? Wo und zu welchem Zeitpunkt? Diese Fragen beantwortet der Online- Katalog der Schweizerischen Nationalbibliothek. Darin sind fast alle Verlagspublikationen aus der und über die Schweiz erfasst. Diese einzigartige Sammlung sagt viel darüber aus, wer sich in der Schweiz öffentlich äussern kann und konnte. Um diese Verhältnisse sichtbar zu machen, wurde der Online-Katalog der Schweizerischen Nationalbibliothek für die Ausstellung «Jetzt wählen!» mit einer Big Data-Analyse untersucht. Die innovative Methode erlaubt eine neue Reflexion über die Sammlung der Nationalbibliothek und die Gedächtniskultur der Schweiz.